Innsbruck – Seit Jänner 2020 wird Österreich von einer türkis-grünen Bundesregierung geführt, nachdem ÖVP-Chef Sebastian Kurz unter dem Eindruck der Ibiza-Affäre einen Koalitionswechsel von den Freiheitlichen zu den Grünen vollzogen hat. Die Regierungsbildung mit den migrationsbegeisterten Grünen war für den Konservativen durchaus ein politisches Wagnis, weil er damit viele Wähler verprellen konnte, die gerade erst von der FPÖ zur ÖVP gewechselt sind. Wahrscheinlich dachte Kurz an das Beispiel Tirol, wo der Praxistest eines schwarz-grünen Bündnisses seit Jahren im politischen Alltag bestanden wird. Nach der Landtagswahl im Februar 2018 führten die Sondierungsgespräche schon einen Monat später zu einer Einigung von Tiroler Volkspartei und Grünen auf eine Koalitionsregierung und damit zu einer Fortsetzung ihrer bisherigen Zusammenarbeit. Im März 2018 segnete der Landesvorstand der Tiroler Volkspartei einstimmig das Regierungsprogramm ab. Auch eine Delegiertenversammlung der Grünen befürwortete mit einer überwältigenden Mehrheit die weitere Regierungszusammenarbeit mit Günther Platter. Einige Grüne störten sich an der Ressortverteilung, die freilich das starke Wahlergebnis der ÖVP widerspiegelt, aber die meisten verwiesen auf „grüne Leuchttürme“ im Koalitionsabkommen. Für die Neuauflage der schwarz-grünen Landesregierung votierten in der konstituierenden Landtagssitzung 23 der insgesamt 36 Abgeordneten. Selbst Kritiker bescheinigen dem ÖVP-dominierten Bündnis eine professionelle und pragmatische Arbeitsweise.

Seit einem Jahr hält das Coronavirus die Tiroler Politik in Atem, die wegen Ischgl als erstem europäischen Corona-Hotspot unter strenger Beobachtung steht. Anfang 2020 wurde Entscheidungsträgern auf Lokal- und Landesebene ein zu spätes und zu lasches Handeln vorgeworfen. Das hat national wie international zu einer fast irrationale Züge annehmenden Tirol-Verunglimpfung geführt, die mal wirtschaftlich, mal parteipolitisch motiviert ist. Letzteres gilt aus Sicht der Volkspartei für die SPÖ, die sich „mit undifferenzierten Pauschalangriffen auf Tirol“ zu profilieren versuche. Mit den Äußerungen von Jörg Leichtfried, Christian Deutsch und Georg Dornauer erreiche das „Tirol-Bashing“ der Sozialdemokraten „einen neuen unrühmlichen Höhepunkt“. Ende Januar konterte die Tiroler Volkspartei die Angriffe auf ihrer Facebook-Seite: „Wenn Dutzende Fälle der britischen Virus-Mutation in einem Wiener Altenwohnheim auftreten, hört man von der SPÖ kein Wort. Wenn Bilder von überfüllten Eislaufplätzen, U-Bahnen und Menschenschlangen vor einem Wiener Burgerlokal die Printmedien füllen, taucht die SPÖ unter.“ Aber wehe, es gehe ums Skifahren. „Dann steigt der Blutdruck der Genossen im Osten. Auch wenn es der SPÖ offenbar ein Dorn im Auge ist: Das Skifahren ist kein Infektionstreiber. Das sollte irgendwann auch die SPÖ kapieren.“ Der ÖVP-Nationalratsabgeordnete Hermann Gahr warf den Sozialdemokraten in einem Facebook-Posting vor, Tirol „offen zum Feindbild“ zu erklären: „Das ist unerträglich, und das haben die Menschen in unserem Land nicht verdient!“

Trotz aller Bedenken der Tiroler Volkspartei hat die Bundesregierung eine Reisewarnung für das Bundesland ausgesprochen. Wegen festgestellter Fälle der südafrikanischen Virus-Mutation warnt Wien vor allen nicht notwendigen Reisen in das Gebiet und fordert Covid-19-Tests von allen, die sich dort in den letzten zwei Wochen aufgehalten haben und in ein anderes Bundesland reisen wollen. Mindestens zehn Tage lang wird Tirol zur Testpflichtzone und damit faktisch zum Sperrgebiet. Wer das Land verlassen will, muss einen negativen Corona-Test vorweisen. Landeshauptmann Günther Platter zeigte sich mit der von der Bundesregierung verkündeten Testpflicht einverstanden. „Wir haben Einvernehmen über diese Maßnahme hergestellt“, sagte der ÖVP-Politiker und kündigte an, dass die Umsetzung in „enger Zusammenarbeit von Tiroler Behörden und Bundesbehörden erfolgen“ wird. Er nehme die Mutation des Virus sehr ernst und appelliere insbesondere an die Menschen im Bezirk Schwaz, sich testen zu lassen.

Gegen die weitere Mutanten-Ausbreitung im hauptbetroffenen Bezirk Schwaz gehen der Landeshauptmann, die Bezirkshauptmannschaft sowie die örtlichen Bürgermeister mit einem Sechs-Punkte-Schwerpunktprogramm vor. Mit einer Mischung aus strengen Kriterien bei der Behördennachverfolgung, einer Testoffensive im ganzen Bezirk, einer einzigartigen Kooperation mit Medizinern zum Aufspüren der Mutationen in Schulen und einer Impfoffensive soll dem Virus der Kampf angesagt werden. „Wir verstehen, dass die Menschen zurück zur Normalität wollen. Dafür braucht es aber zuerst ein detailliertes und umfassendes Lagebild sowie verstärkte Maßnahmen“, argumentierte Bezirkshauptmann Michael Brandl. „Es wird alles darangesetzt, dass Mutationen im Bezirk keine Chance bekommen, sich zu verbreiten.“

Das Hickhack zwischen Innsbruck und Wien um Maßnahmen zur Eindämmung der Südafrika-Variante ärgert die „Tiroler Tageszeitung“, die sich zunehmend auf Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) als zauderhaften und fachlich wenig sattelfesten „Vertagungs-Politiker“ einschießt. Die Reisewarnung für Tirol lasse viele wichtige Fragen offen. Wäre wegen der Mutation des Coronavirus epidemiologisch tatsächlich Gefahr in Verzug, hätte Anschober schon in der Vorwoche unverzüglich handeln müssen und dazu stehen sollen, anstatt Maßnahmen herauszuzögern, hieß es am 9. Februar im Leitartikel „Entscheiden und nicht aufschieben“. Autor Peter Nindler schrieb: „Bis Sonntagabend wussten Zigtausende Tiroler Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht einmal, ob sie nach dem harten Lockdown am Montag wieder in ihre Geschäfte zurückkehren können. Verantwortungsvolle und lösungsorientierte Politik sieht anders aus.“ Die reichweitenstärkste Tageszeitung des Bundeslandes notierte: „Wie so oft spielte die türkis-grüne Bundesregierung auch in den vergangenen Tagen über die Bande und versuchte damit öffentlichen Druck auf Tirol aufzubauen. Ein mögliches medizinisches Problem gehört allerdings gelöst und nicht verpolitisiert. Wer zögert, vermittelt außerdem den Eindruck, selbst unsicher zu sein. Eine Reisewarnung für Tirol zu verhängen, ist keine Raketenwissenschaft. Eher gesichtswahrend – nicht mehr und nicht weniger.“

Die Reisewarnung Wiens kommentieren nicht alle Tiroler ÖVP-Politiker so diplomatisch wie Günther Platter. Der Nationalratsabgeordnete Franz Hörl nannte die Maßnahme im ORF einen „Rülpser aus Wien“. Viel entscheidender seien Reiseempfehlungen anderer Länder: „Die Deutschen und die Holländer sind ja viel wichtiger für uns.“ Hörls Meinung hat in der Volkspartei Gewicht: Der wortgewaltige Verteidiger seines Bundeslandes ist nicht nur Tiroler ÖVP-Wirtschaftsbundchef, sondern auch Seilbahn-Obmann in der Wirtschaftskammer. Den „Rülpser“ der Bundesregierung sehe er als „unfreundlichen Akt“, den er sich „sehr wohl erklären lassen“ werde. An Selbstbewusstsein mangelt es den Tiroler Konservativen wahrlich nicht.

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